Friday, September 28, 2007

Agrarreform auf Venezolanisch


Am 7. September 2007 besuchen wir das INTi (Instituto Nacional de Tierras), das Institut für Agrarreform. Empfangen werden wir vom Sicherheitspersonal, das hinter einem riesigen Eingangstor auf uns wartet. Aus Angst vor konterrevolutionärem Angriff fordert das Personal unsere Papiere – und filmt Herrn Prof. Zeuske für das Archiv.
Hinter einer idyllischen, grünen Anlage liegt der Bürokomplex des INTi – ein altes Herrenhaus, das vormals vom Militär genutzt wurde. Nachdem unsere Taschen die Sicherheitskontrolle überstanden haben, werden wir in einen großen Versammlungssaal geführt. Hier finden auch Fortbildungen für die ländliche Bevölkerung statt.
Über den ganzen Tag erwartet uns ein sorgfältig ausgewähltes Programm mit Vorträgen verschiedener Referenten, die uns einen ersten Eindruck über den Aufbau und die verschiedenen Funktionsbereiche des INTi verschaffen sollen. Trotz des umfangreichen Programms werden leider hauptsächlich theoretische Konzepte vermittelt, während die Probleme des Alltags – trotz Nachfrage - zu wenig Beleuchtung finden. Im Folgenden beschränken wir uns auf die zentralsten Punkte.

Historischer Rückblick
Bereits nach dem Sturz der Diktatur von Pérez Jimenez 1958 kommt es zu ersten zaghaften Versuchen einer Agrarreform. Unter dem sozialdemokratischen Präsidenten Rómulo Betancourt (Ación Democrática – AD) wird 1960 das Gesetz zur Agrarreform erlassen. Seit 1961 werden in 20 Jahren 11,5 Millionen Hektar Land an 230 000 Familien verteilt. Von einer erfolgreiche Agrarreform kann jedoch keine Rede sein, denn da die Landbevölkerung weder günstige Kredite noch weitere Unterstützung, wie etwa Ausbildung und technische Beratung erhält, und das Land zudem pfändbar und verkäuflich ist, kommt es nur wenige Jahre nach der Landreform sogar zu einer erhöhten Landkonzentration. So verfügen die Großgrundbesitzer 1958 über ca. 23% der landwirtschaftlichen Nutzfläche, während es 1988 bereits um die 42% sind. (Dario Azzellini, Venezuela Bolivariana, Revolution im 21. Jahrhundert?, Köln, 2006, S. 200.) Die Entdeckung des Erdöls Anfang des 20. Jahrhunderts wirkt sich negativ auf die venezolanische Agrarwirtschaft aus. Der Anteil der Landbevölkerung sinkt stetig, insbesondere in den 60ern und 70er Jahren, da immer weniger Landwirtschaft betrieben wird, denn es ist günstiger jede Art von Gütern zu importieren, als sie aus nationaler Produktion zu erwerben (so genannte Holländische Krankheit). Durch die starke Landflucht vergrößern sich die Elendsviertel der Großstädte.


Die Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen für die Begünstigten der Agrarreform

Der Fokus des INTi besteht in 1. Der Demokratisierung des Landbesitzes, 2. Der Abschaffung des Großgrundbesitzes und 3. Der Volkserziehung.
Das nationale Ausbildungssystem der Produzenten und Produzentinnen des ländlichen Raumes orientiert sich an dem Konzept einer souveränen Produktivität. Dies bedeutet, dass die nationale Versorgung gewährleistet werden soll und Vorrang vor der Produktion für den Weltmarkt hat.
Als konzeptionelles Ziel steht die Selbstversorgung der kleinbäuerlichen Familien nicht im Zentrum – in der Praxis stellt sie jedoch oft den ersten Schritt dar.
Das Ziel des Ausbildungsprogramms besteht in der Steigerung der souveränen Produktivität sowie des Lebensstandards der Landbevölkerung. Kognitive Fähigkeiten und technologische Kenntnisse aus dem Agrarbereich sollen den angehenden Landwirten vermittelt werden. Der Inhalt der kollektiven Lehreinheiten besteht 1. In der Genderfrage, 2. Den alternativen Kommunikationsformen, 3. Der Konsensbildung und dem sozialistischen Zusammenleben, 4. Der Agrarökologie, 5. Formen, Mitteln und Instanzen der Partizipation, sowie 6. dem System der kommunalen Produktion.
Das INTi kooperiert mit verschiedenen staatlichen Institutionen. So mit dem Ministerio del Poder Popular para la Participación y Protección Social (Ministerium der Volksmacht für die Partizipation und den sozialen Schutz) im Bereich der Stärkung der Consejos Comunales (Gemeinderaete). Das Ministerio de Comunicación e Información (Kommunikations- und Informationsministerium) veranstaltet Seminare über den Einsatz alternativer Kommunikationsmedien (vor allem Radio) im Bereich der Fundos Zamoranos. Außerdem kooperiert das INTi mit dem FONDEMI - Fondo de Desarollo de Microfinanciero (Fonds für Mikrofinanzierung) und der Banmujer (Banco de la Mujer), der Bank der Frauen.

Auch mit der Frente Francisco de Miranda, einer Brigade zur politisch-ideologischen Bildung, arbeitet das INTi zusammen. Im Rahmen der kubanisch-venezolanischen Zusammenarbeit, ist das INDER (Instituto Nacional de Desarollo Rural) für technischen Beistand und die Vergabe von Krediten zuständig. Die UBV, die Universidad Bolivariana de Venezuela, sendet Studierende aus verschieden Bereichen zur Fach- und Gemeindearbeit.

Fundos Zamoranos
Basierend auf dem Gesetz für Land- und Agrarentwicklung (TDA) von 2001, entstehen die so genannten Fundos Zamoranos. Diese „Höfe Zamoras“ sind benannt nach Ezequiel Zamora (1817-1860), einem Widerstandkämpfer, welcher diverse Bauernaufstände anführte. Das Konzept der Fundos Zamoranos stellt für das INTi den landwirtschaftlichen Musterbetrieb dar. Ziel dieser ökonomischen Produktionseinheit ist die Reaktivierung der landwirtschaftlichen Erzeugung, durch die Eingliederung der ländlichen Bevölkerung, sowie der Indigenen in das „neue sozialistische Produktionsmodell.“
Das Kollektivbewusstsein, sowie das Leben und Wirtschaften im Kollektiv bedeuten aus Sicht des INTis das Fundament einer erfolgreichen Agrarreform. Dabei geht es zum einen um die Überlebenschancen der Kleinbauern- und Bäuerinnen. Zum anderen macht das INTi deutlich, dass es den Individualismus auch als ideologischen Wert ablehnt.
Das Ziel der Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion scheint noch nicht näher gerückt zu sein. Die Produktivität ist insgesamt gesunken - im Bereich der Rinderzucht sogar um 30% in den letzten zwei Jahren. Ob dies nur eine vorübergehende, „natürliche“ Erscheinung der Veränderungen und Umstrukturierungen ist, wird die Zeit zeigen.

Das Agrarregister
Die Wichtigkeit des Agrarregisters besteht in der Konsolidierung und Zentralisierung der Informationen über die Landbesitzverhältnisse Venezuelas sowie der Regulierung derselben.
Die Geschäftsführung des Agrarregisters ist auch für die Kontrolle aller landwirtschaftlichen Gebäude sowohl staatlichen als auch privaten Besitzes zuständig. Noch in diesem Jahr soll das Register über das FENIX-System voll automatisiert werden. Unregelmäßigkeiten, wie etwa die doppelte Vergabe von Landnutzungsrechten für ein und dasselbe Land, sollen in Zukunft vermieden werden.
Bei der Bestandsaufnahme des INTi kristallisiert sich derzeit heraus, dass lediglich 20% des zuvor als privat bezeichneten Landes rechtmäßig erworben wurden. Die restlichen 80% sind daher nach neusten Erkenntnissen als staatlich zu klassifizieren. Um politische Spannungen zu vermeiden, wird dieses staatliche Land zum Teil jedoch entschädigt, obwohl dies laut Verfassung nur bei privatem Land (welches zu weniger als 80 Prozent produktiv ist) nötig wäre.

Naturressourcen
Das Ziel der Geschäftsleitung über den Bereich Naturressourcen besteht in dem Schutz der Gewässer, der Boeden, der Biodiversität und der Naturressourcen sowohl der öffentlichen als auch der privaten Ländereien. Der neue Fokus einer nachhaltigen Landwirtschaft steht hierbei im Zentrum.
In Fragen des Umweltschutzes arbeitet das INTi mit dem Ministerio del Poder Popular para el Ambiente (Ministerium der Volksmacht für Umwelt) zusammen. Die strategischen Linien des INTi bestehen dabei in der Abgrenzung von Schutzreservaten, der Förderung des rationalen Gebrauchs der Wasserressourcen über die Consejos Comunales (Gemeinderäte) sowie der Stärkung einer ökologischen Landwirtschaft. Zudem bestehen seit den 30er Jahren Waldreservate, so genannte Áreas Bajo Régimen de Administración Especial (Gebiete unter spezieller Verwaltung). Mit Bezug auf das Gewohnheitsrecht vergibt das INTi jedoch Landnutzungsrechte in diesen Gebieten.

Sind die Naturressourcen eines Nationalparks sehr fragil, kann es zu einer Umsiedlung der der Bewohner und Bewohnerinnen kommen, welche jedoch entschädigt werden.
In Venezuela bleibt letztlich viel in Sachen Umwelterziehung zu leisten, was sich unter anderem in dem großen Müllproblem der Nationalparks zeigt. Die besonders enthusiastischen jungen Vertreter der Geschäftsführung über den Bereich Naturressourcen sind jedoch der Auffassung, dass sich das Umweltbewusstsein der venezolanischen Bevölkerung langsam verbessere.

Juristische Dimension des Agrargesetzes
Eine Geschäftsleitung, die “Gerencia legal Agraria”, überwacht und koordiniert die Ausführung des Agrargesetzes.
Unter anderem kümmert sie sich um die Ausarbeitung verschiedener juristischer Instrumente, z.B. von Cartas Agrarias (Agrarbriefe), Zertifizierung von Höfen und der Deklarierung des Gewohnheitsrechtes.
Im Folgenden werden die wesentlichen Punkte aus der Agrarverwaltung angeführt.

Die Agrarbriefe
Die Agrarbriefe sind ein Instrument über welches das INTi die Landbesetzung von organisierten oder nicht organisierten Campesino- Gruppen zertifiziert. Bei diesem Land handelt es sich um Eigentum des Instituts, oder solches, das zu seinem Gunsten veräußert ist (Land, dass der Regierung gehört, autonomen Institutionen, Staatsbetrieben, sowie Ressourcen, die eine Partizipation von Staats- bzw. “Sozial-“ Kapital von über 50% aufweisen) sofern dieses Land nicht genutzt wird aber fuer die Landwirtschaft geeignet ist.
Das legale Fundament der Agrarbriefe ist die Verfassung der Bolivarianischen Republik Venezuela (Art. 305, 306 und 307), sowie eine Präsidentenverordnung vom 4. Februar 2003 und eine Resulotion des INTi vom gleichen Tag.

Die Deklaration der Gewohnheitsrechte
Über die Bestätigung des Gewohnheitsrechtes garantiert das INTi Landbesetzergruppen, die bisher das Land illegal nutzen, ein Bleiberecht.

Die Deklaration von brachliegendem und unbebautem Land

Land, welches brachliegt oder unbebaut ist und somit nicht die minimalen Erfordernisse von Produktivität aufweist, kann Objekt der Enteignung, der Aneignung des INTi und der Widerrufung des Titels werden.


Zuerkennung von Land

Das Landgesetz legt fest, dass Familienoberhäupter und Alleinstehende zwischen 18 und 25 Jahren ein Anrecht auf Land haben.
Land, das Eigentum des INTi ist, wird jenen zugeteilt, die sich der Landwirtschaft widmen und die Fähigkeit aufweisen, dieses Land in produktive Höfe umzuwandeln. Die Zuerkennung garantiert jenen Interessierten das Recht der Landnutzung. Umgekehrt wird, wenn die Produktivität nicht mehr gewährleistet ist, das Land an einen Nachfolger übergeben.

Das Verfahren der Landaneignung
ist ein Verfahren, das der venezolanische Staat über das INTi für jenes Land anwendet, welches illegal oder ohne Lizenz besetzt wurde. Das Verfahren der Landaneignung wird nicht bei Land eingesetzt, das sich in bester Produktivität befindet. Trotzdem kann sich das Institut jenes Land aneignen, wenn ein besonderes soziales Interesse oder öffentliche Bedürfnisse dies erfordern.


Abschließende Bemerkungen

In dem Masse, wie die Regierung versucht tatsächliches und vermeintliches Privatland in die Agrarreform einzubeziehen, steigt der Unmut und die Gewaltbereitschaft auf Seiten der oppositionellen Großgrundbesitzer. Daher verläuft die Agrarreform in Venezuela, trotz sozialistischer Rhetorik der Staatsangestellten, äußerst schleppend. Steigende Ungeduld und Gewaltbereitschaft auf Seiten der radikaleren Landlosenbewegungen sind die Folge. Die Frage der Landverteilung und Agrarreform gehört neben der Erdölfrage zu dem wichtigsten Sprengstoff zwischen Regierung und Opposition.
Autorinnen: Johanna und Rebecca

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